Neuer Diagrammtyp: Das «Scherendiagramm» macht globale Einkommensunterschiede sichtbar
Was ein experimenteller Umgang mit Dataviz und UX für die Vermittlung von gesellschaftlich relevanten Themen bedeutet
Im Jahr 2013 – damals hiess Superdot noch YAAY – gewann unser Studio einen Preis in einem Wettbewerb von ARCH+ und der Stiftung Bauhaus Dessau zur Visualisierung globaler Ungerechtigkeit.Wir verwendeten einen Datensatz, welche die Bank UBS seit den 70er Jahren über die Einkommen von Berufsgruppen und Konsumentenpreise in den unterschiedlichsten Metropolen der Welt erhebt. Die dabei entstandene Plakatserie macht die unterschiedlichen Einkommen mittels eines eigens entwickelten Diagrammtyps sichtbar und kombiniert diesen mit Storytelling, um dem Publikum die spannenden Geschichten, welche in den Daten stecken, zu vermitteln. Im letzten Jahr haben wir selbstinitiiert eine digitale Version dieses Projekts entwickelt und diese interaktive Datengeschichte an der Vienna Design Week erstmals der Öffentlichkeit präsentiert. In diesem Artikel beleuchten wir einerseits das Potenzial von innovativen Diagrammtypen am Beispiel des von uns entwickelten «Scherendiagramms». Andererseits beschreiben wir unseren in diesem Projekt gewählten Ansatz, Daten im digitalen Raum mittels innovativem UX und UI Design interaktiv erfahrbar zu machen.
Die Entwicklung eines neuen Diagrammtyps – das Scherendiagramm
Noch heute ist die Vision von Otto Neurath aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sehr aktuell. Nämlich auf Basis von Daten und Fakten, eine breite Öffentlichkeit über gesellschaftlich relevante Themen zu informieren und dazu das Medium der Datenvisualisierung zu nutzen. Obwohl es erfreulich ist, dass seither die Visualisierung von Zahlen immer beliebter wurde, gibt es auch einen Nachteil. Denn die sehr verbreiteten Kuchen-, Balken- und Liniendiagramme werden so häufig verwendet, dass sie auf das Publikum uninteressant wirken können. Gerade weil sie für jedes x-beliebige Thema eingesetzt werden, vermögen sie es nicht, die Aufmerksamkeit eines Publikums auf das eigentliche Thema zu lenken. Um dem entgegenzuwirken, haben wir uns die Aufgabe gesetzt, neue Diagrammtypen und neue Formen der Datenvisualisierung zu entwickeln, welche nicht nur die Zahlen, sondern auch das Thema selbst darstellen.
Da es in unserer Datengeschichte thematisch weder um Balken noch um Kuchen, sondern um Lohnunterschiede geht, verwendeten wir also keine Balken- oder Kuchendiagramme. Stattdessen haben wir das «Scherendiagramm» entwickelt, ausgehend von dem Begriff der Einkommensschere.
Jede dargestellte Berufsgruppe wird durch eine eigene Farbe und einen Punkt auf der Lohnskala repräsentiert. Dabei definiert das höchste und das niedrigste der fünf Einkommen die zwei Spitzen einer geöffneten Schere. Die beiden Punkte werden durch eine in der Mitte geknickte Linie verbunden. Dadurch wird auf der Skala der Mittelwert zwischen den zwei Lohnextremen sichtbar. Die weiteren drei Berufsgruppen werden nun an dieser schrägen Linie angeordnet. Es wird also sichtbar: Wie weit ist die Einkommensschere geöffnet? Wie hoch ist das allgemeine Lohnniveau dieser fünf Berufsgruppen? Welches sind die Berufe mit dem höchsten und dem niedrigsten Einkommen? Wie positionieren sich die übrigen Berufe innerhalb der Einkommensschere?
Da das verbreitete Konzept der Einkommensschere im Scherendiagramm abgebildet ist, wird das Diagramm für das Publikum bereits bei der ersten Ansicht intuitiv verständlich. Im Vergleich zu konventionellen Diagrammen entsteht also bei einem themenbezogenen innovativen Diagrammtyp ein zusätzlicher Lerneffekt, da das Thema und die Daten gleichzeitig wahrgenommen werden können.
Daten Storytelling und Dateninteraktion
Das Ziel bei der Digitalisierung dieses Projekts war, das Zielpublikum interaktiv in die Datengeschichte einzubeziehen. Die Aufgabe der digitalisierten Version war also, in das Thema der Einkommensunterschiede einzuführen, den Diagrammtypen zu erklären, auf verschiedene spannende Betrachtungsmöglichkeiten der Daten hinzuweisen und die Benutzer*in dazu zu motivieren, die Daten selbständig zu erforschen.
Im Gegensatz zum Plakat, wo die gesamte Information gleichzeitig sichtbar ist, führen wir in der digitalen Version schrittweise durch die Datengeschichte. Über das Tempo kann individuell entschieden werden, die Reihenfolge ist jedoch vorgegeben. Die Data Story ist in zehn Seiten strukturiert, durch die man blättern kann. Die ersten vier Seiten führen anhand des Scherendiagramms in das Thema der Lohnungleichheit in Städten ein und machen gleichzeitig mit der Funktionsweise des Scherendiagramms vertraut. Danach folgen jeweils drei Seitenpaare, in denen jeweils auf der ersten Seite ein besonders interessantes Beispiel aus den Daten beleuchtet wird und auf der zweiten Seite ausgehend von diesem Beispiel die Daten selbständig und interaktiv erforscht werden können. Bei diesen drei Seitenpaaren erhöht sich jeweils die Komplexität der Daten: Zuerst werden nur einzelne Städte betrachtet, dann werden jeweils zwei Städte zum Vergleich einander gegenübergestellt und letztlich sieht man jeweils die Einkommensschere von 2018 und diejenige von 1988.
Hier siehst du die interaktive Datenvisualisierung als Screenshots:
Die Übergänge von einer Seite zur nächsten werden durch verschiedene Typen von Animationen begleitet. Diese haben einerseits die Funktion, die Aufmerksamkeit der Betrachter*in auf bestimmte Informationsebenen und Details zu lenken. Andererseits dienen die Animationen auch dazu, das Gesamterlebnis vielfältiger und unterhaltsamer zu gestalten. Da jede Interaktion der User*in eine Animation auslöst, ist es spannend zu klicken und zu swipen und zu schauen, was jeweils passiert. Die Interaktion dient also nicht nur der reinen Informationsgewinnung, sondern hat auch ein spielerisches Element.
Lessons Learned
Sowohl auf der Ebene der Datenvisualisierung, als auch auf der Ebene der User Interaction und User Experience fördert ein innovativer, ästhetischer und spielerischer Ansatz eine angeregte Auseinandersetzung des Zielpublikums mit der Information. Aus folgenden Gründen ist dieser Ansatz in unserer Zeit vielversprechend:
- Es sind so viele Daten zugänglich wie noch nie zuvor – Stichwort Digitalisierung, Big Data und Open Data.
- In Zeiten vom «Postfaktischen» gibt es ein grosses gesellschaftliches Interesse an der Vermittlung und dem Zugänglichmachen von Fakten mittels Daten, was in der Corona-Pandemie sehr deutlich wurde.
- Trockene Zahlen haben ohne innovative Vermittlungsstrategien einen schwierigen Stand in der schnelllebigen und stark durch Bilder und Schlagzeilen geprägten Aufmerksamkeitsökonomie.
Neugierig? Hier geht’s zur interaktiven Datenvisualisierung «Out of Balance»
Das neue Out of Balance Poster
Zur Veröffentlichung der digitalen «Out of Balance App» haben wir auch eine neue Posterversion mit aktuellen Zahlen produziert. Die Printversion ist bereits vergriffen, aber eine PDF-Version kannst du hier umsonst runterladen.